WO STEHT DIE TÜRKEI?

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Ich lebe seit mehr als sechs Jahren in der Türkei und genau so lange höre ich von vielen anderen hier lebenden Residenten, Niederländern, Briten, Dänen, Norwegern, Deutschen, Österreichern, dass spätestens am Ende des Jahres die türkische Wirtschaft kollabiert, dass die Türkei bankrott ist, dass die Wirtschaft am Boden liegt, dass die Staatsverschuldung die Türkei ruiniert, usw, usw. Natürlich ist Präsident Erdoĝan an allem schuld und man versteht nicht, wie der überhaupt gewählt werden konnte. Aber die gebildeten Menschen in der Türkei werden ihn ja auf gar keinen Fall wählen. Außerdem ist er ja ein Diktator, hat die Pressefreiheit und den Rechtsstaat abgeschaft, bereichert sich persönlich , unterdrückt jede Opposition und hasst und bekämpft „die Kurden“.

Dies sind zumeist Leute, die ihr Leben lang nicht aus ihrem Dorf in Thüringen, Limburg oder Fünen herausgekommen sind. Dann, im Ruhestand, kommen sie in die Türkei und meckern über alles, was nicht exakt so ist, wie sie es aus der Heimat kennen. Sie versuchen, den Türken zu erzählen, wie sie ihr Land zu führen haben, sie verstehen weder die türkische Mentalität, noch die Sprache, die Geschichte, die Politik, das Rechtssystem, die Wirtschaft, die Religion und haben auch kein Interesse, sich damit zu beschäftigen.

Tatsächlich hat die Türkei während der letzten etwa 20 Jahre eine Art Wirtschaftswunder erlebt und ist heute ein moderner Industriestaat mit einer blühenden Wirtschaft, einer funktionierenden Infrastruktur, einem stabilen Bankensystem, einer effektiven Verwaltung und einem guten Rechtssystem.
Vor einigen Jahren stand die Türkei auf Platz 17 der größten Volkswirtschaften. Es wurde erwartet, dass in wenigen Jahren Platz 13 erreicht sein würde. Tatsächlich steht die Türkei heute auf Platz 11. Im letzten Jahr 2021 ist die Wirtschaft um 8,9% gewachsen und selbst im Corona-Jahr 2020 gab es ein Wachstum um 1,79%. Die Türkei ist der größte Automobilimporteur für die EU. Das modernste Krankenhaus Europas steht in der Türkei und in Izmir ist 2018 das weltgrößte Forschungszentrum für Biomedizin und Gentechnik in Betrieb gegangen. Der neue Flughafen in Istanbul ist binnen kürzester Zeit zum meist frequentierten Airport Europas geworden. Dies ließe sich noch weiter fortsetzen über Brücken, Tunnel, Wehrtechnik, Hochgeschwindigkeitszüge, Automobilentwicklung usw.

Aber genug der Zahlen. Die Türkei versteht man nur, wenn man sich ein wenig mit der Geschichte beschäftigt. Die türkische Republik wurde 1923 gegründet und hatte in den ersten 90 Jahren ihres Bestehens ca. 65 Regierungen, also eine mittlere Verweildauer einer Regierung von weniger als 18 Monaten! In dieser Zeit gabe es viermal einen Militärputsch. Der Putsch von 1980 forderte Hunderte von Todesopfern durch Hinrichtungen, Folter, Schusswechsel, Mord durch Unbekannte, Suizid und ungeklärte Ursachen während der Haft. Daneben wurden Hunderttausende vor Gericht gestellt, sie wurden entlassen, ihnen wurde der Reisepass oder die Staatsbürgerschaft entzogen, sämtliche Parteien wurden verboten, für 300 Tage gab es keine Zeitungen.

Ich denke, es ist verständlich, dass die türkische Bevölkerung so etwas nicht noch einmal erleben möchte und wirklich froh ist, seit 2003 eine stabile Regierung zu haben. Hinzu kommt, dass sich das Leben vieler Menschen in dieser Zeit grundlegend verbessert hat. Das mittlere Einkommen hat sich etwa vervierfacht, es gibt eine staatliche Krankenversicherung (SGK), es gibt soziale Programme für Menschen mit geringem Einkommen und für Behinderte und vieles mehr. Die Verwaltung funktioniert, ebenso das Bildungssystem und die Gesundheitsversorgung. Und nicht zu vergessen: die Korruption ist nahezu verschwunden.

Ich habe mit Menschen gesprochen, die die Türkei seit 20 Jahren oder länger kennen und wirklich Dinge gehört, die man heute kaum noch glauben kann. Ein türkischer Bekannter, der lange im Saarland lebte, erzählte mir vor einiger Zeit, wie er damals in die Türkei reisen musste, weil sein Großvater schwer erkrankt war. Bereits bei der Einreise musste er Bestechungsgeld zahlen, um überhaupt abgefertigt zu werden. Dann hat das Pflegepersonal im Krankenhaus Geld verlangt, um Opa zu betreuen, der Chirurg hat „Messergeld“ verlangt, sonst würde Opa nicht operiert. Er sagte mir auch, zu der Zeit wäre niemand auf die Idee gekommen, zur Polizei zu gehen, egal was passiert war! Heute, so sagte er, geht er zur Pöizei und fühlt sich als Bürger mit Rechten.

Man hat mir auch berichtet, dass es in ganz Alanya genau zwei Streifenwagen der Polizei gab, einer fuhr am Tage und der andere bei Nacht. Für Verkehrsübertretungen wurde an Ort und Stelle die Strafe kassiert – und verschwand in den Taschen der Polizisten, die nur sehr unregelmäßig überhaut ein Gehalt bekamen.

Diese Zustände haben sich während der Regierungszeit von Erdoĝan (2003 – 2014 Ministerpräsident, seit 2014 Präsident der Republik) grundlegend geändert. Die Korruption ist nahezu verschwunden und mit der Verfassungsreform von 2017 sind einige weitere Überbleibsel aus der Zeit der Militärdiktatur abgeschafft worden. Die bis dahin gültige Verfassung stammte im Wesentlichen aus dem Jahre 1982 und wurde von der Militärjunta nach dem Putsch 1980 geschrieben. Darin hatte sich das Militär ein Vetorecht im Gesetzgebungsverfahren vorbehalten. Das gibt es seit der Reform von 2017 nicht mehr. Ebenso wurden dir Militärgerichte aufgelöst

Man kann heute wohl mit Fug und Recht sagen, dass die Türkei ein moderner Rechtsstaat ist, trotz aller Hetze uns Häme der deutschen Medien und Teilen der deutschen Politik.

Holger Vorbeck Written by:

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